Die HAW Hamburg veranstaltet am 2. Juni einen Aktionstag zu einer neuen Aufklärung mit einer Keynote von Prof. Ulrich von Weizsäcker. Mit dem digitalen Aktionstag will die HAW Hamburg einen Beitrag leisten, Hochschulen als Räume des Zukunftsdenkens zu gestalten. Studierende, Expert*innen und die interessierte Öffentlichkeit diskutieren im Rahmen des Aktionstags das Thema Nachhaltigkeit gemeinsam und fachübergreifend aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen.
Herr Professor von Weizsäcker, können Sie einem Nicht-Philosophen den Begriff der Aufklärung in einfachen Worten erklären? Warum ist dieses Denken der Vernunft so ungeheuer erfolgreich?
Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker: Wir müssen mit den Begriffen einer leeren und einer vollen Welt anfangen. Herman Daly, Chefökonom der Weltbank, hat diese Begriffe geprägt und er hat natürlich einen ökonomischen Gesichtspunkt. Er beschreibt damit, dass sich das Wachstum von Wohlstand in Europa seit dem 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fortwährend ausgedehnt und gesteigert hat. Mit dieser Ausdehnung ist auch Eroberung gemeint, zum Beispiel von Nord- und Südamerika und Afrika.
Diese Ausdehnung ist bis heute durchweg positiv besetzt und ermöglichte den Übergang von der leeren zur vollen Welt. Wir feiern die großen Entdecker und Eroberer immer noch als Helden. Ebenso sind die großen Denker der Aufklärung wie René Descartes, Immanuel Kant immer noch sehr beliebt und durchgängig positiv konnotiert. Dabei folgt unsere Fortschrittstrategie diesem Denken der Vernunft und ist kritisch zu hinterfragen, da egoistisch und europazentrisch.
Wenn Sie einen Afrikaner fragen, wie er das findet, ernten Sie oft eine zornige Reaktion. Aufklärung wird dort mit Eroberung gleichgesetzt. Die Wahrnehmung der Sieger unterscheidet sich eben von der der Besiegten. Die Aufklärung wirkte dort wie eine Waffe, dabei war sie für uns Europäer die große Befreiung von Kirche und Feudalsystem.
Der Begriff der Aufklärung wie er hier eingesetzt wird, verknüpft das aufgeklärte Denken der Moderne unmittelbar mit einem bestimmten Wirtschaftstypus und Finanzsystem, das die 1. Industriellen Revolution hervorgebracht hat. Wie hängt das zusammen?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Schauen Sie sich dazu das Pro-Kopf-Einkommen an. Dieses ging ab dem 18. Jahrhundert rasant nach oben. Der Nobelpreisträger Paul Crutzen definierte das Jahr 1950 als Zäsur, wo das Holozän in das Anthropozän wechselte. Bis dahin machten die Menschen 200 Jahre eine Entwicklung durch von immer mehr überlebenden Menschen durch Medizin und Wohlstand. Diese Zeit, so Crutzen, war die glücklichste Phase der Menschheit in der gesamten Erdgeschichte. Wir hatten eine leere, große und ausgeglichene Welt im Einklang mit der Natur.
Sie zeigen in Ihrem Buch „Wir sind dran“ an vielen markanten Beispielen, dass unsere Nachhaltigkeitsstrategien der gleichen Logik des aufgeklärten Denkens der leeren Welt folgen. Sie behaupten, dass diese Denkweise kein „ernstgemeintes Nachhaltigkeitsdenken“ hervorbringen kann. Können Sie uns das erklären?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Ohne Frage ist die Nachhaltigkeits-Agenda 2030 ein großer Fortschritt, aber zu schwach. Die ersten 11 „Sustainable Development Goals“, kurz SDGs genannt, folgen ausschließlich der Logik des Wachstums und damit einem radikalen Wachstumsziel. Das ist für Schwellen- und Entwicklungsländer absolut nachvollziehbar, nur in Bezug auf die Natur ist es das nicht.
So fordert das Ziel zwei, den Hunger zu beenden. Das würde bedeuten, die landwirtschaftlichen Flächen zu verdoppeln. Konkret gesprochen, müsste man die Hälfte des Serengeti-Nationalparks opfern. Erst in den SDGs 13, 14 und 15 geht es um Klima, Meere und Biodiversität. Das kommt mir wie fromme Sprüche zur Gewissensberuhigung vor. Diese wichtigen Fragen sind auf der Agenda zu weit nach hinten gerückt. Dem Megatrend zum rein ökonomischen Wachstum wird dort ungebrochen gefolgt. Und dazu kommt das SDG 17, das sich auf Entwicklungshilfe bezieht. Das Bruttoinlandprodukt soll durch Zuschüsse aus dem Norden in den südlichen Ländern gesteigert werden, nur um die Natur noch schneller kaputt zu machen. Aus diesem Grund halte ich die Agenda 2030 für sachlich falsch und für einen unrichtigen Weg.