LISTENING TO EARTH – Prof. Ellen Sturm-Loeding in Mexiko

Im Oktober 2019 begab sich Prof. Ellen Sturm-Loeding vom Department Design mit der Unterstützung des International Office auf eine viermonatige Forschungsreise nach Mexiko, um bedrohtes Fachwissen zum Thema Druckgrafik und ihre traditionellen Techniken zur Gesamtherstellung eines Künstlerbuches zu sammeln. Dazu folgte Ellen Sturm den Einladungen von zwei grafischen Zentren, von „La Ceiba Grafica“ in Coatepec/Veracruz und dem Secretario de Cultura in Querétaro. Wir haben nach ihrer Rückkehr mit Prof. Sturm-Loeding gesprochen und ihre Erfahrungen in einem Interview festgehalten.

Ellen Sturm beim Hochdruck auf Textil in „La Ceiba Grafica“ in La Urduñ, Coatepec, Veracruz

Wie ist die Idee für das Projekt entstanden und wie haben Sie den Kontakt nach Mexiko hergestellt?

Eines hat sich mir über Jahre gezeigt: Die Praxis der Druckgrafik bringt eine fachorientierte Kommunikation mit sich, die Landesgrenzen mühelos überwindet und sich auf internationaler Ebene in einem starken Netzwerk zeigt.

In meiner eigenen Studienzeit hatte ich die Gelegenheit das Druckgrafische Zentrum in Tidaholm in Schweden zu besuchen. Die guten Erfahrungen und künstlerischen Begegnungen blieben mir erhalten, sodass sich daraus eine langjährige Verbundenheit entwickelte. Bereits 1993 nahm ich am internationalen Lithographie-Symposium, welches alle vier Jahre in Tidaholm stattfindet, teil. Es ist beeindruckend, wie vielfältig die druckgrafische Szene des Steindrucks dann aus aller Welt für zwei Wochen zusammenkommt. In einem vergleichsweise unscheinbaren Ort wurde sichtbar, wie Druckgrafik im internationalen Kontext eine Basis für künstlerische Kommunikation herstellt.

Als ich 2007 den Ruf an das Department Design erhielt, war ich sofort überzeugt, dass ich diese Erfahrung wie einen Staffelstab an meine Studierenden weitergeben möchte. So fahre ich mit Studierenden in der sommerlichen vorlesungsfreien Zeit alljährlich in das beschauliche Västgötaland, um gemeinsam den Steindruck in professionellstem Umfeld zu erproben. Dabei fließen immer auch neue Entdeckungen und Erfahrungen aus der dortigen Werkstatt mit ein, die wir mit nach Hause, nach Hamburg in die Druckwerkstatt der Finkenau nehmen. Mittlerweile konnten Absolvent*innen der HAW als Stipendiat*innen eine Residency in der Litografiska Akademie in Tidaholm wahrnehmen und ihre internationalen Kontakte ausbauen.

An diesem Ort traf ich auch auf Künstler*innen, die aus Mexiko angereist waren. Wir tauschten uns über Druckgrafik, serielles Arbeiten und Künstlerbücher aus. Sie waren so begeistert von unserem Kompaktseminar und luden mich ein, nach Mexiko zu kommen. Dass ich anlässlich meines Forschungssemesters tatsächlich die Reise nach Queretaro in das Secretario de Cultura antreten konnte, bleibt mir eine wertvolle Erfahrung, die ich mit Dankbarkeit teilen möchte.

Was genau ist ein Künstlerbuch?

Interessanterweise war es der mexikanische Künstler Ulises Carrión, der 1975 in Amsterdam Other Books and So Archive herausgab und damit eine frühe Definition von Künstlerbuch abgab.

Ein Künstlerbuch wird als Originalarbeit von Künstlerhand geschaffen. Als seriell hergestelltes Objekt und von dem/der Künstler/-in autorisiert stellt es ein Multiple dar und kann in einer Auflage erscheinen. Künstlerbücher sind also ganz eigenständige Kunstwerke. In Form eines Buches wird das künstlerische Konzept sichtbar. Seit der Zeit des DADA bis in die Kunst der Gegenwart werden die formalen Grenzen eines Buches dabei auch überschritten.

Mexikos Tradition der Druckgrafik, geprägt von der Propaganda der mexikanischen Revolution von 1910 bis 1916, verstand Druckgrafik als Protestmittel. Politische Inhalte erhielten eine bildnerische Form. Formal hat sich die Druckgrafik der frühen erzählerischen Gegenständlichkeit in kontemporäre Ausdrucksformen erweitert. Es ist bemerkenswert, wie nationale Identität und Herkunftsverständnis dabei mitschwingen.

Wie sah ein typischer Tagesablauf in den graphischen Zentren aus?

Mein Tag begann so: Der Kollege für Japanholzschnitt (er lebte längere Zeit in Japan) gab von 7 - 8 Uhr morgendlichen Unterricht in Thai Chi, eine heilsame Übung des Innehaltens und der Konzentration - etwas, was ich mit nach Hamburg nahm.

Darauf folgten die notwendigen ineinandergreifenden Arbeitsschritte, sie strukturierten meinen Tag. Vom Abziehen der Kozostämme und Schlagen der Kozofasern bis hin zum Vorgang des Schöpfens, Trocknens und Kalibrierens waren meine Tage mit körperlicher Arbeit ausgefüllt. Farben aus Pflanzen zu gewinnen, untersuchte ich in mehrtägigen Schritten. All das waren Vorarbeiten für ein Künstlerbuch, das aus heimischen Materialien entstehen sollte. Hölzer bereitete ich als Druckstock vor, um diese künstlerisch zu bearbeiten.

Das Tun mit der eigenen Hand stand alle Tage im Mittelpunkt. Erst dann kam ich zum Eigentlichen meiner Vorbereitung, zum Druck. Anders als in meiner bisherigen künstlerischen Praxis, stellte hier die Aufbereitung der Materialien selbst einen unabdingbaren großen Teil des kreativen Prozesses dar. Diese Vorgehensweise unterscheidet sich enorm von der gängigen Praxis in Deutschland, die aus der herrschenden Materialfülle schöpft und sich der Produktorientiertheit ergibt. Dies ist eine erlebte Erkenntnis, die mich begleiten wird.

Wie bringen Sie die gewonnenen Erkenntnisse in die Lehre an der HAW Hamburg ein?

Die ganzheitliche Arbeitsweise von der Herstellung von Materialien bis zur ihrer künstlerischen Verarbeitung als Konzept regt ein gestalterisches Denken an, das über den Bildträger hinausgeht. Es wird raumgreifend und zeigt auf seine Umgebung, die zu jeder Zeit Quelle und Teil der künstlerischen Arbeit werden kann.

In Zeiten medialer Bilderfluten liegt einem solchen Arbeiten und den damit eigenen Bildfindungen eine Entschleunigung zugrunde, in die es sich hineinzubegeben lohnt. Und dieses Bedürfnis sehe ich auch bei meinen Studierenden - die sich ja heute in einer überwiegend digitalen Umgebung wiederfinden - wenn sie sich in der Druckgrafik einem Arbeitsprozess durch direkte Handhabungen widmen. Das zeigt mir, wie wichtig Räume sind, die die Entwicklung eines individuellen Formvokabulars durch eine entschleunigte Auseinandersetzung mit dem Material als Gegenüber des dabei stattfindenden Dialogs ermöglichen. Sie sind essentiell für eine Lernumgebung wie unserer Hochschule, in der im Umgang mit handwerklich-gestalterischen Techniken wie die der Druckgrafik individuelle Denk- und Handlungswege erschlossen werden sollen. Erst durch das Arbeiten an einem von mir sogenannten „Materialwiderstand“ entsteht das Unplanbare, das für Studierende zum Ausgangspunkt eigener künstlerischer Vorhaben werden kann. Das Unvorhersehbare erfordert einen Umgang, öffnet neue Wege und so ist das handwerklich-gestalterische Arbeiten unverzichtbar für das Anstoßen und Sichtbarwerden bildungsrelevanter Erfahrungen im Bereich kreativer Studiengänge.

Diesem Thema widmet sich auch mein Forschungsvorhaben und nimmt das künstlerische Arbeiten mit der Hand in den Blick. Mein Ziel ist es, ästhetische Erfahrungsprozesse im gestalterischen Umgang mit künstlerischen Praktiken anzustoßen und zu erforschen, um didaktisch-methodische Herangehensweisen in künstlerischen Studiengängen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. 
Denn der performative Handlungsbedarf zur Erforschung und zum Begreifen von Materialien, Materie und ihrer Welt wächst mit zunehmender Digitalisierung.

Haben sich aus dem Besuch Folgeprojekte entwickelt oder sind Gegenbesuche in Hamburg geplant?

Drei konkrete Folgeprojekte sind bereits in Vorbereitung und drei weitere in Planung und dann ist da noch ein Traum: 
Um einen Workshop für Lithographie zu geben, bin ich nach Querétaro für Januar/Februar kommenden Jahres eingeladen. Im dortigen Secretario de Cultura ist für Februar 2021 eine Ausstellung mit meinen druckgrafischen Arbeiten vorgesehen. Das Goethe-Institut möchte mit mir eine Ausstellung und ein Künstlergespräch in Mexico City durchführen und eine darauffolgende Wanderausstellung in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut durch Lateinamerika ist angedacht. In Planung für 2021 ist ein interkulturelles Künstlerbuch mit Künstler*innen (Studierenden und Absolvent*innen) zwischen Hamburg und Mexiko sowie entsprechende Gegenbesuche von Lehrenden und Studierenden.

Der damit stattfindende Wissensaustausch fließt direkt in die Lehre ein. Die Praxis der Druckgrafik bringt eine fachorientierte Kommunikation mit dem internationalen Netzwerk zusammen. Dieses Netzwerk möchte ich den Studierenden und Lehrenden in Exkursionen und gemeinsamen Projekten lebendig zu Teil werden lassen. Mit Studierenden Mexiko zu besuchen, bleibt vorausschauend trotz Corona meine Vision.

Marc Götting: Wir bedanken uns herzlich für das Interview und für Ihre Zeit. Wir wünschen Ihnen alles Gute für die Zukunft und hoffen, dass sich die Projekte bald realisieren lassen und auch die Präsenzarbeit mit den neu gewonnenen Erfahrungen und Techniken wieder aufgenommen werden kann.

Das vollständige Interview und weitere Bilder finden Sie hier.

Informationen zur Förderung von Lehr- und Forschungsvorhaben im Ausland finden Sie auf unserer Webseite.

Kontakt

Marc Götting
International Office

Das vollständige Interview und weitere Bilder finden Sie hier.

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