068-Umformgrad

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Transkript

Es ist Zeit für ein wenig Küchen-Fertigungstechnik. Oder so.

Eine Größe, die in diesem Podcast schon in verschiedenen Episoden aufgetaucht ist, will endlich etwas näher betrachtet werden. Und da ich heute keine große Lust auf ein Übermaß an Mathematik habe, nehme ich es damit mal nicht so genau.

Welche Kenngröße tauchte in den Episoden über die drei Druckumformverfahren genauso auf wie in der über das Volumenelement Egon bei der Spanbildung und in der verbotenen Folge mit der gemopsten Klausur? Na?

Der Umformgrad!

Wenn man an Umformverfahren herumrechnen möchte, weil man z. B. die Umformarbeit oder -kraft benötigt, dann führt am Umformgrad kein Weg vorbei. Wann geht ein Umformteil kaputt? Wenn der zulässige Umformgrad überschritten wird. Wann bricht der Span? Dito. Wovon ist die Fließspannung bzw. die Formänderungsfestigkeit unter anderem abhängig? C'est ça.

Es geht also darum, ein Maß dafür zu finden, wie weit etwas umgeformt wurde, und zwar nicht nur auf der Makroebene wie der Biegewinkel oder das Tiefziehverhältnis, sondern bei der Betrachtung eines infinitesimal kleinen Volumenelements.

Aber ich fange doch mal groß an:

Ich habe einen Stab mit konstantem Querschnitt und einer Ausgangslänge L0 von 100mm. Zusätzlich gehe ich von idealer Einspannung, Reibungsfreiheit und gleichmäßiger Umformung über den ganzen Stab aus. Hey, es ist ein gedachter, idealer Stab. Diesen belaste ich auf Druck und schiebe ihn so lange zusammen, bis er bei einer bleibenden Länge L1 von 90mm ankommt.

Frisch von der Schule könnte man auf die Idee kommen, dass die Längendifferenz doch ein gutes Maß für die Umformung sein könnte:

Je weiter ich umforme, umso größer wird ΔL. Passt doch.

Naja. Kleines Gedankenexperiment: Wenn ich jetzt einen Stab der Länge L0=1000mm auf L1=990mm umforme, dann erhalte ich ebenfalls ein ΔL von 10mm. Aber mal so vom Bauchgefühl her: Ist eine Umformung von 100mm auf 90mm die gleiche wie eine von 1000mm auf 990mm? Ich würde mal sagen: Nein, ist sie nicht. Die Strichrechnung hat also versagt.

Welche Operatoren bringen die Mathematiker:innen als nächstes auf den Tisch? Die Punktrechnung. Hat da wer ein Verhältnis vorgeschlagen? Prozentrechnung? Gute Idee.

Ein bekanntes Verhältnis z. B. aus Davids Episode über das Spannungs-Dehnungs-Diagramm ist – voila – die Dehnung. Sie ist das Verhältnis aus der Längendifferenz und der Ausgangslänge:

In unserem ersten Fall ergibt sich die Dehnung also zu 0,1 oder 10%, im zweiten zu 0,01 oder einem Prozent. Deutlicher Unterschied.

Neues Gedankenexperiment. Ich nehme den ersten eben zusammengeschobenen Stab und ziehe ihn wieder so lange, bis er plastisch bei 100mm ankommt.

 

Das würde bedeuten, dass ein gewählter Umformprozess einen anderen Betrag hätte als seine exakte Umkehrung. Das klingt nicht sinnvoll, ist im echten Leben aber manchmal so: Wenn ich jemandem von meinen 100€ 10% abgebe, dann bleiben mir 90€. Gibt mir jemand davon 10% dazu, lande ich nur bei 99€.  

Zurück zur Fertigungstechnik:  Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm ist halt gut fürs Konstruieren, da braucht man nichts Plastisches, wir in der Umformtechnik brauchen es genauer.

OK. Punkt- und Strichrechnung scheinen nicht geeignet zu sein. Was tun Mathematiker:innen als nächstes, wenn ihnen etwas nicht passt? Sie werfen mit wildgewordenen Logarithmen.

Ich präsentiere: Der Umformgrad

Wenn ihr jetzt wirklich wissen wollt, warum hier der Logarithmus benutzt wird, dann müsst ihr uns schreiben. Vielleicht macht der Umformtechnikprofessor mal eine eigene Episode darüber. Oder wir machen mal eine QnA, wenn wir genug allgemeine fertigungstechnische Fragen von Euch bekommen haben. Die Mailadresse gibt’s im Abspann.

Zurück zum Umformgrad: Wenn ich nun also die Umformung umkehre, dann vertauschen sich im Logarithmus nur Zähler und Nenner. Und wenn ich das tue, dann ändert sich am Ergebnis nur das Vorzeichen nicht der Betrag. Das macht auch Sinn, denn ein positiver Umformgrad zeigt eine Dehnung und ein negativer eine Stauchung an.

Das klingt doch jetzt nach einer sinnvollen technischen Größe.

DIE Grundregel der Umformtechnik war ja die Volumenkonstanz; im Großen wie im Kleinen. Wenn ich auf ein kleines Volumenelement schaue, das umgeformt wird, dann gilt Volumen vorher gleich Volumen hinterher. Etwas mathematisch umgeformt, ergibt sich daraus: Die Summe der Umformgrade in den Koordinatenrichtungen ergibt Null:

 

Daraus ergeben sich zwei sehr nützliche Einsichten:

  1. Bei einer Umformung in allen drei Richtungen muss EINE der Umformungen ein anderes Vorzeichen haben und ist damit auch automatisch die größte und damit die Hauptformänderung, die für die Berechnungen den Ton angibt. Ich gehe gerade davon aus, dass unser Koordinatensystem optimal zu den Umformungen passt.
  2. Bei einer ebenen Umformung (eine der Umformungen ist null) haben die beiden anderen Umformungen den gleichen Betrag.

Praktisch, oder?

Das einzige, was jetzt noch verwirren könnte, ist das Vorzeichen. Ihr erinnert Euch vielleicht noch an die Fließkurve. Diese ist die Darstellung der Kaltverfestigung bei Umformungen. Forme ich um, wandere ich um den Betrag des Hauptumformgrads auf der Fließkurve nach rechts. Bei einer negativen Umformung, darf ich aber leider nicht wieder auf der Fließkurve zurück gehen. Ich darf nur nach rechts. Das merkt man besonders dann, wenn man einen Draht oder ein Blech immer wieder hin und her biegt. Es wird immer fester, dann spröde und dann reißt es und bricht. Irgendwann ist das zulässige Umformvermögen überschritten.

Aufgrund dieser Beobachtung ist bei Berechnungen stets der Betrag des Umformgrads zu verwenden. Dann gilt:

Der Gesamtumformgrad ist die SUMME der Beträge der Hauptumformgrade der aufeinander folgenden Umformschritte.

Achtung! Nicht mit dem Tiefziehverhältnis verwechseln, da war es das Produkt.

Ach übrigens: Der Umformgrad wird auch wahre Dehnung, oder Hencky-Dehnung genannt. Heinrich Hencky war ein Ingenieur, der an der Technischen Hochschule in Darmstadt studiert und promoviert hatte. Er kam weit herum und arbeitete unter anderem in Delft, Mainz, Charkiw und am MIT. Er überlebte beide Weltkriege und verstarb 1951. Seine bekannteste Arbeit ist „Über einige statisch bestimmte Fälle des Gleichgewichts in plastischen Körpern“.

geschrieben von Benjamin Remmers
eingesprochen von Benjamin Remmers