Der Wert der Bildung in der vietnamesischen Kultur
Bildung hat in Vietnam nicht erst seit dem Wiederaufbau des Landes einen hohen Stellenwert. Über die Jahrhunderte hat der Einfluss des Konfuzianismus in Vietnam eine traditionsreiche Bildungskultur hervorgebracht, die in der vietnamesischen Kultur bis heute tief verwurzelt ist.
Es ist nicht erst seit gestern bekannt, dass die Kinder vietnamesischer Migrant*innen im deutschen Bildungssystem überdurchschnittlich gut abschneiden – ein Phänomen, dessen Ursache in der Wissenschaft noch immer nicht vollständig geklärt ist. Neben verschiedenen Erklärungsansätzen haben Forschende auch kulturelle Faktoren ins Auge genommen. Ein Blick in die Kulturgeschichte des Landes hilft, dieses Phänomen und den Wert von Bildung in der vietnamesischen Kultur besser zu verstehen.
Der Sonderfall: Bildungserfolg von Vietnames*innen in Deutschland
Während im Allgemeinen die Ungleichheit bei Bildungschancen für Kinder von Migrant*innen sowie sozial benachteiligten Menschen in Deutschland von Forschenden recht gut untersucht wird, sind die Vietnames*innen in Deutschland als eigene Gruppe weniger häufig ein Objekt tiefgehender Forschung. Dabei gäbe es Grund genug, denn: Der Bildungserfolg der Kinder vietnamesischer Migrant*innen an deutschen Schulen hebt sich im Vergleich zu anderen Gruppen deutlich ab. Aus Zahlen des statistischen Bundesamtes für das Jahr 2015 geht hervor, dass gut 58 Prozent der vietnamesischstämmigen Schüler*innen in Deutschland auf Gymnasien gingen, während im Vergleich dazu nur 42,7 Prozent der deutschen Schüler*innen ein Gymnasium besuchten. Damit lag der Anteil vietnamesischer Schüler*innen an deutschen Gymnasien zeitweise um mehr als ein Drittel höher.
Bietet die Kultur Antworten?
Wie erklären Wissenschaftler*innen diesen Bildungserfolg? Im Rahmen einer Studie von 2015 fanden deutsche Forschende keine offensichtlichen Unterschiede im Vergleich zwischen vietnamesischen Familien und anderer Migrant*innengruppen. Untersucht wurden verschiedene Kriterien wie die finanzielle Situation, das Einkommen der Familie oder der Erziehungsstil der Eltern. Die meisten Familien wiesen jedoch ähnliche materielle Grundlagen auf.
Mittlerweile wurde auch das konfuzianische Erbe in der vietnamesischen Kultur als Ursache des Bildungserfolgs von Forschenden ins Auge genommen. In internationalen Fachkreisen ist hier vom Confucian heritage culture learner’s phenomenon und „Kultur mit konfuzianischem Erbe“ (Confucian heritage culture) die Rede, welches den Bildungserfolg in konfuzianisch geprägten Gesellschaften wie Vietnam, China, Korea und Japan erklären könnte.
Bildung als Weg der Menschwerdung
Obwohl diese These noch umstritten ist, kann kaum von der Hand gewiesen werden, dass konfuzianische Philosophie die Wertschätzung von Bildung in den ostasiatischen Zivilisationen nachhaltig beeinflusste. Denn im Konfuzianismus ist Bildung nicht bloß Ausbildung, sie ist Menschwerdung.
„Wenn die Jade nicht geschliffen ist, wird sie nicht zu etwas Nützlichem. Wenn der Mensch nicht gebildet ist, kennt er nicht den Weg“ – dieses Zitat aus dem Buch der Riten (Liji) ist heute noch vielen Vietnames*innen geläufig. Es reflektiert das humanistische Bildungsideal des klassischen Konfuzianismus, welches in der vietnamesischen Kultur und Gesellschaft, wie auch in den ostasiatischen Gesellschaften Chinas, Koreas und Japans bis heute in verschiedenen Formen wirkt.
Wenn die Jade nicht geschliffen ist, wird sie nicht zu etwas Nützlichem. Wenn der Mensch nicht gebildet ist, kennt er nicht den Weg.
Auch in Vietnam hat diese Philosophie der Bildung Spuren hinterlassen und die Kultur entscheidend geprägt. Die Umsetzung konfuzianischer Bildungsideale in Vietnam reicht weit zurück und hat mit der Gründung der ersten Nationalakademie vor fast 1000 Jahren ihren Anfang genommen.
Bildung für den Staatsdienst
Mit dem Lý-Klan gelangte ab 1009 eine neue Herrscherdynastie im Norden Vietnams an die Macht, die als erste langlebige Dynastie das Land vereinen konnte und staatliche Strukturen errichtete, die eine dauernde Grundlage für spätere Dynastien bildete. Von Beginn an förderte und bewahrte die Herrscherfamilie den einheimischen Buddhismus als de facto Staatsreligion. Gleichzeitig sollten Beamte für die Errichtung eines effektiven Staatsdienstes nach dem Vorbild des chinesischen Bildungsmodells das Studium konfuzianischer Klassiker durchlaufen.
Für diesen speziellen Zweck wurde ab dem Jahr 1070 ein Gelände in der Hauptstadt Thăng Long, dem heutigen Hanoi, als Tempel und Akademie ausgewiesen. Als Tempel diente die Anlage der Verehrung Konfuzius’ und seiner Schüler (daher auch Tempel der Literatur oder Văn Miếu genannt), später aber auch als Akademie für die Söhne der Herrscherfamilie und der höchsten Staatsbeamten – der jungen Elite des Landes. Nach chinesischem Vorbild wurde der Gebäudekomplex daher auch „Imperiale Akademie“ beziehungsweise „Akademie der Söhne des Staates“ (Quốc Tử Giám) genannt. Als höchste Bildungseinrichtung für das Studium konfuzianischer Klassiker und chinesischer Literatur des gesamten Landes, kann die Akademie als älteste Hochschule oder auch Universität Südostasiens bezeichnet werden.
Ehre den höchsten Gelehrten
Bis heute finden sich dort auf Steinstelen verewigt die Namen der erfolgreichen Kandidaten, die den höchsten Rang eines „herausragenden Gelehrten“ oder „Doktoranden“ (Tiến sĩ)in den Palastprüfungen erlangten und später mit hohen Positionen im Staatsdienst rechnen konnten. Diesen Kandidaten wurde eine „ruhmreiche Rückkehr“ (Vinh quy) mit einer Prozession in ihr Heimatdorf beschert, wo sie ihren Ahnen opferten und ihren Erfolg verkündeten (Bái tổ).
Hier wurde Bildungserfolg durch Fleiß, Ausdauer und Lernwillen in höchster Form belohnt, die nicht nur das Ansehen der eigenen Familie mehrten, sondern auch das Ansehen des gesamten Dorfes. Manche Dörfer, wie Kim Đôi in Bắc Ninh oder Mộ Trạch in Hải Dương, sind bis heute landesweit bekannt als „Doktorandendörfer“ (Làng Tiến sĩ), in denen über die Jahrhunderte dutzende erfolgreiche Kandidaten den Ruhm ihrer Heimat mehrten. Der Titel Tiến sĩ ist als höchster akademischer Grad in Vietnam noch heute in Gebrauch und entspricht dem westlich-europäischen Doktorgrad.
Aufstieg und Ansehen durch Bildung
Nach Gründung der Lê-Dynastie im 15. Jahrhundert hielt die Regierung Beamtenprüfungen ab, die nicht nur privilegierte Sprösslinge der Aristokratie und des Beamtentums zuließen, sondern erstmals auch normalen Bürgern die Teilnahme gewährte. Dies ermöglichte allen nachweislich rechtschaffenden Bürgern die Teilnahme an Beamtenprüfungen für den Staatsdienst und somit theoretisch reale Aufstiegschancen. Nicht zufällig ist die vietnamesische Kultur voll von Geschichten und humorvollen Anekdoten über erfolgreiche Prüflinge und große Gelehrte, während es in dem Land nicht an Tempeln mangelt, die dem Andenken herausragender Gelehrter wie Chu Văn An gewidmet sind. Das Bild junger Prüflinge, die durch Lernfleiß, Intelligenz und moralische Qualitäten in die höchsten Ämter des Staatsdienstes aufstiegen, ist fest verankert in der vietnamesischen Kultur. Bildung war der Schlüssel zu sozialem Aufstieg und Prestige, aber auch materiellen Wohlstand.
Das Versprechen des Aufstiegs durch harte Arbeit ist auch in Deutschland präsent. Für konfuzianisch geprägte Kulturen hat ein persönlicher Erfolg aber nicht nur Bedeutung für die eigene Person. Denn im Zentrum konfuzianisch geprägter Kulturen steht die Familie und in erweitertem Sinne der Klan. Das Streben, durch herausragende Leistungen und Bildungserfolge den Ruhm der Eltern zu mehren, ist daher auch in der vietnamesischen Kultur anzufinden.
Ein bekanntes Beispiel aus der heutigen Zeit ist die Berufswahl der Kinder. Vorwiegend sollen sie studieren und speziell Ärzt*innen, Jurist*innen, Bankangestellte, Professor*innen oder Akademiker*innen allgemein werden. Als kleine Meilensteine für den Stolz der Familie und den Erfolg des Kindes sind auch Trophäen von Wettbewerben oder ein Titel wie Klassensprecher*in von Bedeutung. Viele talentierte und fleißige vietnamesische Schüler*innen erhalten Urkunden (Bằng khen), die ihre Lernerfolge zur Schau stellen und dadurch auch das Ansehen der Familie mehren.
Die Schattenseiten der Bildungskultur
Ideen und Ideale entwickeln in einer Kultur auch ihr Eigenleben. So wurde auch das konfuzianische Bildungsideal missverstanden und missbraucht. Die in der Kultur verwurzelten Erwartungen können sich in einem strengen Erziehungsstil äußern und erzeugen bei Kindern und Jugendlichen einen enormen Leistungsdruck, der zu psychischen Problemen führen kann, die von Dauerstress zu Depressionen bis hin zu Suizid reichen können. Dies sind Probleme, mit denen auch vietnamesische Schüler*innen in Deutschland zu kämpfen haben. Freiheit und Selbstbestimmung sowie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit kommen bei vielen Schüler*innen häufig zu kurz.
Auch in Vietnam flammte die Debatte über die Kultur des zu hohen Leistungsdrucks in diesem Jahr erneut auf, nachdem ein Schüler in Hanoi aus dem 28. Stock sprang, um sich das Leben zu nehmen und seiner Familie einen schmerzhaften Abschiedsbrief hinterließ.
Eine Balance zwischen angemessenem Fleiß im Lernen und der Entfaltungsfreiheit der eigenen Person wird auch weiterhin ein Thema bleiben, welches in Vietnam eine gesellschaftliche Reflektion und Debatten erfordert. In Vietnam wie auch in Deutschland könnte eine Rückbesinnung auf den höheren Wert von Bildung als Weg der Menschwerdung in diesem Kontext fruchtbar sein.
Text: Julian Huesmann